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Eine Zeitenwende

hat Deutschlands neue Regierung ausgerufen. Sie muss es wissen. Sie macht sie ja.

Was sie da macht, erklärt sie ihrem Volk. Dabei bleibt allerdings ein gewisser Ergänzungsbedarf.

1.

Der erste und Hauptpunkt der Erklärung geht so: Die Staatenwelt im Allgemeinen, Europa im Besonderen und ganz besonders Deutschland sind ohne eigenes Zutun und gegen alle Erwartungen in einer neuen Epoche aufgewacht. Die ist durch „Putins Krieg“ definiert. Der zerstört nämlich nicht nur die Ukraine in ihrer bisherigen Verfassung, sondern Europas Frieden und Friedensordnung und überhaupt den bisherigen gepflegten Umgang der Staaten miteinander.

Was in der Erklärung fehlt, ist jede sachliche Bezugnahme auf die Erklärung, die die russische Seite zu ihrem Krieg abgibt: Er soll zerstören, was – in ihrer für das Geschehen ja nicht ganz unwichtigen Sicht der Dinge – der wirkliche strate­­gische Inhalt dieser Friedensordnung ist. Nämlich die fortschreitende Zerstörung der Sicherheit, die Russland für seinen Fortbestand als anerkannte Weltmacht reklamiert und auch nach westlichem Expertenwissen für diesen Zweck braucht: einen Respekt, der unbedingt einschließt, dass die NATO bei ihrer nicht ganz verabredungsgemäßen Ostausdehnung vor der Westgrenze von Belarus und Ukraine Halt macht. Dass es „dem Kreml“ beim Angriff auf die Ukraine um diesen Respekt, die Respektierung eines elementaren Sicherheitsbedarfs geht, ist den Zuständigen in der NATO und ihren Mitgliedsländern lange bekannt: Die entsprechenden ausführlichen Erklärungen der russischen Regierung haben sie ohne Zweifel mitbekommen; der Präsident hat jedenfalls alles getan, um so verstanden zu werden. Ganz gewiss braucht es keine Geheimdienste, um „Putins wahre Absichten“ zu verstehen. Und die werden ja auch zur Kenntnis ­­genommen, ganz offiziell. Nämlich einerseits mit der tröstlichen Zusicherung, die NATO wäre doch für niemanden eine Bedrohung, schon gar nicht für die offiziell und zunehmend nachdrücklich als Feind eingestufte Russische Föderation. Anderer­­seits, und das ist das viel Härtere, in Form einer ebenso schiefen wie entschiedenen Zurückweisung des strategischen Interesses Russlands: „Der Kreml“ habe kein Recht, das unzweifelhafte Recht einer souveränen Ukraine auf Beitritt zur westlichen Allianzversicherung infrage zu stellen. Das ist schräg, weil es der NATO wie der russischen Seite am Fall der Ukraine um die Reichweite dessen geht, was „der Westen“ als seinen Sicherheitsbedarf in Europa definiert – die Einschränkung und Verdrängung russischer Macht –, und nur insofern um die Entscheidungsfreiheit eines ukrainischen Souveräns. Genau darin ist der Ablehnungsbescheid aus dem Westen zugleich und vor allem radikal: Mit dem Stichwort „souveränes Recht“ gilt der russische Anspruch auf strategischen Respekt, geltend gemacht an der Ukraine als Entscheidungsfall, als definitiv erledigt und fortan ein staatsverbrecherischer Eroberungswille Putins als der einzig wahre Kriegsgrund. Zur Demonstration dessen, dass „der Westen“ von russischem Sicherheitsbedarf als Zweck der Moskauer Ukraine-Politik nichts wissen will, ihn also entschlossen ignoriert und so gezielt ins Leere laufen lässt, inszeniert die US-Regierung ziemlich meisterhaft die Kriminalisierung dieser Politik: Sie lässt ihre Geheimdienste „ermitteln“, „deckt auf“, was die russische Regierung als Mittel für ihr erklärtes strategisches Ziel, die weitere Ostausdehnung der NATO zu blockieren, unmissverständlich in die Wege leitet; der US-Präsident „entlarvt“ höchstpersönlich das Timing des russischen Vorgehens gegen die Ukraine. Die Dementis, mit denen Moskau seinen demonstrativen Aufmarsch begleitet, werden dementsprechend von vornherein nicht als die diplomatische Botschaft genommen, als die die russische Seite sie verstanden haben will, nämlich als letzte Aufforderung an die NATO, ihr mit Garantien für Selbstbeschränkung entgegenzukommen. Sie sind definiert als Lügen, die die besorgte Welt in falscher Sicherheit wiegen sollen. Dagegen hilft nicht einmal die weltöffentliche Pressekonferenz, in der der russische Präsident die nette Mitteilung des deutschen Bundeskanzlers, ein NATO-Beitritt der Ukraine stünde doch gar nicht auf der aktuellen Tagesordnung und könne schon deswegen kein Grund für kriegerische Gegenwehr Russlands sein, mit der Frage kontert, was denn dann morgen und übermorgen fällig wird: Es bleibt bei der kompromisslosen Zurückweisung des russischen Sicherheitsinteresses in Form offensiver Nicht-Befassung mit dem Drangsal, das die NATO ihrem Feind bereitet; unterstrichen durch den nachträglichen Vorwurf, Putin hätte Kanzler Scholz, so wie vorher schon der russische Außenminister seine deutsche Kollegin, mit dem Hinweis, noch wäre der Ernstfall zu vermeiden, frech belogen. Wozu anzumerken wäre, dass auf russischer Seite neben einigem nationalideologischen Stuss über die Kiewer Rus und die bösen Bolschewiken ein bemerkenswertes Maß an unverblümter Ehrlichkeit in Sachen Grund und Zweck von Militanz und Diplomatie zu notieren ist und eine gewisse Verlogenheit eher aufseiten derer vorliegt, die ihre Abfuhr für den russischen Standpunkt als nicht infrage zu stellendes Faktum verstanden haben wollen und nicht als Gegen-Kriegserklärung, die zur Eskalation der „Lage“ beiträgt und, wie von US-Geheimdiensten prognostiziert und vom US-Präsidenten sogar terminiert, den Ernstfall auslöst.

2.

Mit dem ist sie also da, die Zeitenwende. Die findet zwar in der Ukraine statt. Was da stattfindet, sind aber, wie gesagt, nicht bloß Verwüstungen des Landes, sondern nach Auskunft der Herren und Macherinnen dieser Wende die irreversible Zerstörung der europäischen und letztlich der weltweiten Friedensordnung, die „dem Westen“ und ganz prominent der deutschen Nation keine andere Option lässt als massives militantes Zurückschlagen. Ergänzend explizit nach­­zutragen bleibt hier das Stück ehrlicher Klarstellung, das, wenngleich nur sehr implizit, in dieser Kriegserklärung immerhin enthalten ist: Sie klärt auf über die Bedingung – nämlich ein effektives Zurückweichen Russlands vor dem Anspruch der NATO auf entscheidende östliche Geländegewinne –, unter der der freiheitlichste Staatenbund, den die Welt je gesehen hat, mit seinem Höchstmaß an Kriegsfähigkeit und -bereitschaft allenfalls bereit ist, mit Russland bis auf Weite­­res friedlich auszukommen und den gegebenen Status der europäischen Staaten­­welt fürs Erste als Friedensordnung anzuerkennen. Diese implizite Klarstellung er­­folgt explizit in der Praxis als Gegen-Eskalation, die, der Natur der Sache ­­entsprechend, ziemlich symmetrisch mit Waffen in der Ukraine und um sie herum erfolgt, zugleich und vor allem aber asymmetrisch auf den als Gefechtsfelder genutzten Geschäftsfeldern der modernen Weltwirtschaft stattfindet.

In der Ukraine sorgt „der Westen“ mit der überreichlichen Lieferung von Waffen und Moral für Widerstand. Er scheut keine ukrainischen Opfer für das hohe Ziel, russische Kräfte aufzureiben. Dazu befeuert er einen Patriotismus, der die heldenhafte Bevölkerung gegen die Wahrnehmung immun macht, für welche Friedensordnung sie die Helden spielen dürfen. Auf Kosten des Landes und seiner Bewohner treiben Russland und NATO-Mächte die Eskalation der Gefechte voran, immer am Rand einer weltkriegsträchtigen Konfrontation; wobei es wieder an der russischen Seite ist, die letzte Eskalationsstufe der strategischen Abschreckungswaffen ins Spiel zu bringen, um bei ihren Gegnern Wirkung zu erzielen. Daneben läuft ganz einseitig von westlicher Seite aus das Großexperiment, Russland mit seiner Abhängigkeit vom Dollar- und Euro-Kapitalismus als seiner postsowjetischen Existenzgrundlage nicht bloß zu er­­pressen, sondern mit dem Entzug der Geschäftsgrundlage als handlungsfähige Staatsmacht kaputtzu­­machen. Hier darf alles, was den Gepflogenheiten des Weltfriedens zuzurechnen ist, seine Tauglichkeit als Instrumentarium zur Zerstörung eines ­politökonomisch schwächeren Mitglieds der Völkergemeinschaft unter Beweis stellen. Diese extreme Zielsetzung des westlichen ­Sanktionsregimes führt in drastischer Weise zum Ausgangspunkt des Krieges zurück und zugleich über ihn hinaus: Für eine ­­Respekt einfordernde und einflößende russische Macht gibt es in Europa – und überhaupt – für die heilige Dreifaltigkeit aus USA, NATO und EU keinen Platz. Um sie zu eliminieren, ist für „den Westen“ sogar in Geld gemessen erst einmal nichts zu teuer. Die Ukraine hat derweil das Pech, für einen ersten Teil der militärischen Dezimierung russischer Macht als Schauplatz zu fungieren. Das reichlich mit Bildmaterial versorgte Mitleid der Zuschauer mit den staatsoffiziell betränten Opfern hat darin seinen strategischen Sinn – inkommensurabel, aber wirkungsvoll.

3.

Zu alldem sagt die regierende Elite in den zuständigen Hauptstädten, mit besonderem Nachdruck die in Berlin, also Zeitenwende. Auch da lässt sie allerdings einen Ergänzungsbedarf offen. Nämlich die Präzisierung, inwiefern der Krieg in der Ukraine eine historische Wende ist und für wen.

Für die USA, die Führungsmacht der durch Präsident Biden so machtvoll wiederbelebten „freien Welt“, jedenfalls eher nicht. Amerika bekämpft ­­Russland als strategisch ernstzunehmenden Gegner schon lange und teilt sich sein Vorgehen ein: Es arbeitet mit überlegenen Mitteln an seiner Fähigkeit, jede Stufe der Konfrontation zu definieren und zu dominieren; bis hin zur Entwicklung und Vorbereitung der aus seiner Sicht nötigen Szenarios für den Atomkrieg des 21. Jahrhunderts.[1] Dabei wissen die USA, mit oder ohne Geheimdiensterkenntnisse, Bescheid über die Bedrängnis, in die sie vor allem in Europa „den Kreml“ bringen, und über dessen Bemühen, auf jeder Stufe der Konfrontation mitzuhalten und die eigene Gegenwehr zu eskalieren; auf das zielt ihr Aufwand für unüberwindliche Eskalationsdominanz. Bei alldem wahrt Amerika stets seine Freiheit zu berechnender Konfrontation; im Fall der Ukraine: voranzumachen, bis Putin zurückweicht, oder ein Stück weit die Zwickmühle zu öffnen, in die es seinen Gegner bringt – Eskalation mit offenem Ende oder strategische Selbstaufgabe –, und in der es selbst jedenfalls nicht gefangen ist.

Für Deutschland sieht die Sache anders aus. Da eröffnet die neue Regierung mit einer landesweiten Explosion patriotischer Moral, mit einem 100 000 000 000-Euro-Fonds für die Bundeswehr und einem außenpolitischen Schwenk zu einem neuen Militarismus tatsächlich eine ziemlich andere Epoche. Und da gibt es zu der offiziellen Erklärung, warum das fällig und wofür das gut ist, durchaus auch noch etwas hinzuzufügen. Nämlich den harten Kern des allgemeinen Jubels darüber, dass „demokratische Werte“ und die Sachzwänge der „Realität“ endlich mal und so großartig wie nie in eins fallen: Seinem Anspruch, Europa zu führen,wird Deutschland fortan in der Weise gerecht, dass es die Welt nicht „bloß“ kapitalistisch ausnutzt, sondern auch mit der Fähigkeit und Bereitschaft zum erfolgreichen Gebrauch militärischer Gewalt beeindruckt. Frieden schafft es in Europa ab sofort nicht mehr in „strategischer Partnerschaft“ mit, sondern – ebenso strategisch – gegen Russland. Zu diesem Fortschritt hat die Regierung sich von ihren lieben Partnern, dem großen jenseits des Atlantik und denen aus der EU, vor allem aus deren Osten, lange drängen lassen; jetzt überholt sie alle Drängler und versetzt die Welt in ehrfürchtiges Erstaunen.

Was dafür nötig ist und wie im Sinne dieses frisch entdeckten „Realismus“ der Einsatz der „Ampel“ für Soziales, Grünes und Gelb-Digitales auszubuchstabieren ist – das sagen die Berliner Chefs ihrem einstweilen von seinem patriotischen Moralismus begeisterten Volk dann schon.

[1] Ausführlich hierzu in GegenStandpunkt 3-19: Die amerikanische Weltmacht treibt die Entmachtung ihres russischen Rivalen voran

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Punktsieg für die Partei der Achtsamkeit im Umgang mit der Macht

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Vom demokratischen Sinn einer Seuche

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Geschäft, Leben, Freiheit, Würde – schweres Geschütz gegen seuchenpolitische Vorsicht

Pandemie X: Von der Pandemie zum Pandämonium des Bösen
Die Bürger und ihre ultimative Wahrheitsfrage – wer ist schuld an der ganzen Misere?!

wird fortgesetzt…

[veranstaltungstipp]


Die GEGENSTANDPUNKT-Redaktion bietet die Gelegenheit zur politischen Diskussion

Jour fixe in Dortmund – Regelmäßiger Diskussionstermin

Dietrich-Keuning-Haus, Leopoldstr. 50-58 (Hbf Nordausgang), Dortmund, Raum 226
am 11.02.2020, um 19.00 Uhr

Juristisch gleich, moralisch geachtet, schlecht behandelt:
Die Frau im Kapitalismus

Auch nach der längst erreichten rechtlichen Gleichstellung mit dem Mann, auch nachdem Frauen heute die Mehrheit der Abiturienten stellen, dabei die besseren Noten haben, in vielen Studiengän­gen die Mehrheit der Studenten stellen, nachdem sie manche vordem als Männerdomänen bekannte Berufsfelder erobert haben, gibt es noch immer genug Diskriminierung und sexuelle Unterdrückung des weiblichen Geschlechts.

Frauen führen den Kampf dagegen, indem sie der Männerwelt den Vorwurf machen, nach wie vor den fälligen Respekt für die Selbstbestimmung und eine selbstbewusste Rolle der Frau zu verwei­gern, in einem alten Denken und gestrigen Rollenbildern der Geschlechter zu verharren. Mit der Forderung nach Respekt rennen die Protagonisten der Geschlechtergerechtigkeit überall – in Politik, Öffentlichkeit und schon gleich im akademischen Bereich – offene Türen ein.

Sieht man von ganz konservativen Kreisen, die vom traditionellen Familienbild nicht lassen wollen, und von den Kultfiguren des Gangsta-Rap ab, gibt es keine Stimme, die vor den Frauen als vollwer­tigen, beruflich und überhaupt selbstbestimmten Mitgliedern der Gesellschaft nicht den Hut ziehen würde. Überall gibt es Gleichstellungsbeauftragte, Frauenförderung und Frauenlehrstühle; an Unis und im linken Milieu ist das „Gendern“ verbreitet: Durch die Modifikation von Wörtern und Gram­matik besteht man darauf, dass in jedem Satz, in dem von menschlichen Subjekten die Rede ist, der Frau noch einmal eigens gedacht und ihr die Ehre erwiesen wird.

– Woran liegt es dann, dass der allgemein bekräftigte gute Wille nicht viel ändert an den sozialen Benachteiligungen, Beleidigungen, An- und Übergriffen, die Frauen erfahren?

– Woran liegt es, dass die offizielle Moral sich von der praktisch gelebten so trennt?

– Anders gefragt: Haben die gesellschaftlichen Positionen und Rollen, auf die die Frauen festgelegt sind, nicht doch handfestere Gründe als frauenfeindliche Vorurteile der Männer, Gründe, denen man mit dem Einfordern und Abliefern von Respektbezeugungen überhaupt nicht beikommt?